Ich kam gegen Abend [des 24. März 1933] aus Würzburg [in Niederstetten] an. Nach dem gemeinsamen Essen mit meinen Eltern machten wir alle drei noch einen Besuch bei Familie Neuburger, jüdischen Freunden, mit denen wir sehr gut standen. Während des Gesprächs bemerkte Frau Neuburger, daß mein Vater überaus nervös war, und fragte ihn offen: "Herr Stern, was ist mit Ihnen, warum sind Sie so unruhig?" Er gab aber nur zur Antwort, es sei nichts - und wir kümmerten uns nicht weiter darum. Es war noch nicht allzu spät, als wir uns auf den Heimweg begaben. Die Straßen lagen still im Dunkeln. Im Rathaus aber sahen wir Licht brennen. Wir wunderten uns darüber und überlegten, wer um diese Uhrzeit noch dort arbeiten könnte. Wenig später gingen wir schlafen

Am anderen Morgen ganz früh - es war Samstag, der 25. März - wurde ich durch den Lärm schwerer Lastwagen, die durch die Straßen rumpelten, und das Gröhlen antisemitischer Lieder geweckt. Gleich darauf klingelte es an unserer Tür. Wir hatten noch eine jener altmodischen Zugglocken, an denen man draußen zog, worauf oben im Treppenhaus die Glocke durch alle Räume tönte. - Vater kam an meine Tür: "Bruno, steh auf! Sie sind da!" Er brauchte mir nicht zu sagen, wer "sie" waren. Dann ging er hinunter, um zu öffnen. Herein traten zwei Sturmtruppführer der SA in ihren braunen Uniformen mit Pistolen im Gürtel und ein Mann von der Staatspolizei. Sie stiegen die Treppe hoch und erklärten uns, daß das Haus noch einmal1 durchsucht werden müßte nach Schußwaffen, staatsfeindlicher Literatur und sonstigen Unterlagen, die Deutschland schaden könnten. Einen Durchsuchungsbefehl hatten sie nicht vorzuweisen, auch kein anderes amtliches Ausweispapier - das war inzwischen nicht mehr nötig.2 Sie durchwühlten nun das Haus vom Keller bis zum Dachboden und sahen sogar in den Geldschrank des hinteren Ladenraumes. Aber entdecken konnten sie nichts. Erst als sie ins Wohnzimmer zurückkamen, fiel ihnen an der Wand ein Bild ins Auge, das Walther Rathenau darstellte, den jüdischen Staatsmann, der 1922 von Rechtsextremisten ermordet worden war. Sie nahmen das Gemälde herunter und forderten meinen Vater auf, sich fertig zu machen, um mit ihnen aufs Rathaus zu kommen. Dabei sahen sie auch zu mir herüber und flüsterten miteinander. Der Gestapo-Mann wies mich in einen Nebenraum, folgte mir nach und schloß die Tür hinter uns. Daraufhin nahm er seine Pistole heraus und richtete sie auf mich. Ich sah wie erstarrt auf den Lauf, der, nur ein paar Zentimeter entfernt, unverändert auf mich gerichtet blieb. Der Mann herrschte mich an: "Sie sind ein Kommunist! Geben sie’s zu!" Es klang wie ein Befehl. Was sollte ich darauf antworten? Ich war immer unpolitisch gewesen und niemals ein Kommunist, ja nicht einmal ein Sozialist. Auf die Pistolenmündung fixiert, versuchte ich, trotz des Aufruhrs in meinem Inneren, einen klaren Kopf zu behalten, und erklärte wahrheitsgemäß, daß ich weder Kommunist war, noch dem Kommunismus nahe stand, da ich einer studentischen Verbindung angehörte und diese bekanntlich keine sonderlich enge Freundschaft mit den Linken pflegten. Aus irgend einem Grund schien ihn das zufriedenzustellen. Er ging zurück ins Wohnzimmer. Mittlerweile war mein Vater ausgehbereit und folgte den beiden SA-Leuten und dem Gestapo-Mann zum Rathaus. Draußen schloß sich ihnen noch ein vierter Bewachungssoldat an, der so lange auf der Straße gewartet und das Haus "unter Kontrolle" gehalten hatte.

Es war nun etwa sechs Uhr morgens. Kurz vorher war der Bürgermeister von Niederstetten [Jakob Schroth] auf dem Weg zum Bahnhof durch unsere Straße gegangen (er fuhr an diesem Morgen zum Sitz der Kreisverwaltung). Wir fragten uns, nachdem wir davon erfuhren, ob er gewußt hatte, was bei uns vorging. Später sagte jemand, daß die lokalen Parteiführer ihn an diesem Tag absichtlich weggeschickt hätten. Auf den Straßen waren zu dieser Zeit keine Zivilpassanten unterwegs, auch sah niemand aus dem Fenster - wahrscheinlich aber standen viele hinter dem Vorhang, um alles zu beobachten, und mancher wird sich wohl gewundert haben, was die Nazis bei uns suchten. Nur SA-Leute liefen überall herum. Die meisten von ihnen waren für diese "Polizeiaktion" von außerhalb eingesetzt worden, kamen also aus anderen Ortschaften. Aber ab und zu konnte man auch ein bekanntes Gesicht unter ihnen entdecken.

Der Uhrzeiger rückte vorwärts. Mutter und ich mußten befürchten, daß die Gerüchte, die wir neuerdings immer öfter gehört hatten, doch der Wahrheit entsprachen. Was nur sollten wir machen? Zwei Häuser weiter wohnte der Tierarzt von Niederstetten, der im Ruf stand, dem rechten Flügel anzugehören [Hermann Eyßer, stv. Ortsgruppenleiter der NSDAP]. Mama konnte einfach nicht tatenlos warten. Wir beschlossen, daß sie durch Keller und Hintergärten den Nachbarn zu erreichen versuchen und ihn um Hilfe bitten sollte. Vielleicht würde er sogar im Rathaus vorsprechen? Gesagt, getan. Der Tierarzt hörte sich alles an und tröstete meine Mutter erst einmal: sie solle sich keine Sorgen machen, ihrem Mann würde schon nichts passieren. Zum Rathaus, das von SA-Leuten umringt war, konnte er nicht gehen. Niemand hätte das gekonnt.

So kam Mutter wieder heim, und wir warteten und warteten. Es waren die längsten Stunden unseres Lebens. Frieda [ ], unser christliches Hausmädchen, war bei uns. - Um 8.30 Uhr ungefähr kam Vater zurück, aber nur, um schnell eine Tasse Kaffee zu trinken. Er mußte gleich wieder weg. Auf die Frage meiner Mutter, ob man ihm etwas angetan hätte, antwortete er: "Nein." Dann stand er schon auf, ging langsam die Treppe hinunter und zurück ins Rathaus. Dort angekommen, traf er auf den Stufen zum Eingang Simon Kirchheimer, der das Gebäude gerade verließ und fragte: "Was tun Sie denn hier? Sie können doch nach Hause gehen!" In seiner Aufregung hatte mein Vater tatsächlich die Anweisungen falsch verstanden. Erleichtert schloß er sich nun Kirchheimer an, der sofort weiterfragte: "Haben Sie auch was abgekriegt?", worauf mein Vater nur mit einem Haggadah-Wort antwortete: "Dayenu" (Es war genug). Obwohl er selbst mißhandelt worden war, konnte Simon Kirchheimer nicht glauben, daß man Hand an Max Stern gelegt hatte.

Als Vater nun wieder zu Hause war, bat er Mutter, ihm beim Auskleiden behilflich zu sein. Er wollte sich etwas hinlegen, aber nicht in sein Bett - das stünde zu nahe am Fenster. Von draußen hörten wir abermals die vorbeirumpelnden Lastwagen und das Gröhlen der SA-Leute, diesmal verlor sich der Lärm in die entgegengesetzte Richtung: die Sturmtrupps zogen ab. Dann vernahm ich unterdrücktes Weinen aus dem Schlafzimmer. Mutter hatte entdeckt, daß Vater aufs grausamste geprügelt worden war. Sein Rücken zeigte nicht das kleinste Fleckchen heiler Haut mehr. Nach der Ankunft im Rathaus hatten sich mein Vater und zehn weitere Juden mit dem Gesicht zur Wand aufstellen und stillhalten müssen. Dann wurden sie, einer nach dem andern, aufgerufen und einzeln in einen Nebenraum kommandiert. Dort warf man meinem Vater alle Arten von erlogenen Anschuldigungen entgegen, zog ihm die Jacke aus, stopfte ihm ein Taschentuch in den Mund, damit er nicht schreien konnte, und befahl ihm, sich vornüber zu beugen, woraufhin vier Männer unbarmherzig mit Stahlpeitschen auf ihn einschlugen.

Es gibt keine Worte, unsere Gedanken und Empfindungen in diesem Moment zu beschreiben. Wären wir selbst durchgepeitscht worden, es hätte uns nicht mehr schmerzen können. Vater lag still auf der Liege, kein Wort der Anklage kam über seine Lippen, kein Wort des Schmerzes, kein einziges Wort ... Wir beschlossen, Dr. Heller, unseren langjährigen Hausarzt, zu rufen. Einen jüdischen Arzt gab es nicht mehr in Niederstetten. Frau Heller war Leiterin der NS-Frauengruppe, weshalb wir anfangs Zweifel hegten, ob ihr Mann, da die Umstände sich derart zugespitzt hatten, noch in unsere Wohnung kommen würde. Aber er kam - und gab meinem Vater die bestmögliche ärztliche Behandlung. Meine Mutter fragte ihn: "Herr Doktor, warum nur haben sie meinen Mann so zugerichtet, gerade ihn, der nie jemandem etwas zuleide getan hat?" Der Arzt wußte nichts darauf zu sagen als: "Frau Stern, wir leben in einer hochpolitischen Zeit."

Als Dr. Heller uns verließ, war es etwa 9.30 Uhr. Mutter und ich überlegten, ob ich nicht in die Synagoge gehen sollte, erstens, um dem Gottesdienst beizuwohnen, und zweitens, um zu erfahren, wie es den anderen Gemeindemitgliedern ergangen war. Ich brach auf. Der Gottesdienst hatte noch nicht begonnen, auch waren noch nicht sehr viele Männer da. In der Mitte der Synagoge aber stand der siebenundsiebzigjährige Abraham Kirchheimer, ein tief religiöser Mann. Die Arme zum Himmel erhoben, rief er: "Gott, oh Gott, warum hast du uns verlassen?" Ich werde den Anblick niemals vergessen. Die verzweifelte Klage rührte allen Anwesenden ans Herz. Auch Kirchheimers Sohn, jener Simon Kirchheimer, den mein Vater vor dem Rathaus getroffen hatte, ein Veteran des Ersten Weltkriegs und ebenso guter Sohn wie selbst Familienvater, war ja geprügelt und mißhandelt worden - wie andere Mitglieder unserer Gemeinde. "Gott, oh Gott, wie kannst du das zulassen?" Eine Welt, eine gute Welt voller Nächstenliebe, Tradition, Hoffnung auf eine bessere Zukunft und Glaubensbereitschaft war an diesem Morgen erschüttert worden in der kleinen jüdischen Gemeinde von Niederstetten. Und die Erschütterung ging bis auf den Grund.

Das Dritte Reich hatte seinen triumphalen Einzug gehalten. Bis ans Ende meiner Tage wird mir der 25. März 1933 im Gedächtnis bleiben. Auch die christliche Bevölkerung war schockiert, nur wagte niemand etwas zu sagen oder der wilden Horde offen Widerstand zu leisten. Angst, Mißtrauen und Schweigen fielen wie ein dunkler Vorhang über das Städtchen und verließen es nicht mehr, bis das ganze Regime schließlich zusammenstürzte.

Niederstetten hatte eine von der Gemeinde angestellte Krankenschwester, eine Diakonissin der evangelischen Kirche [Emma Deininger]. Sie kam noch am Samstagnachmittag zu uns und sagte, daß Pastor Umfrid sie geschickt hätte, der herzlichen Anteil an unserem Schicksal nähme. Wenn sie oder er irgend etwas für uns tun könnten, sollten wir es sie nur wissen lassen. - In den folgenden Tagen führte ihr Weg sie noch öfter zu uns, und dank ihrer Mithilfe und Pflege wurde mein Vater bald wieder halbwegs gesund.

Bis zum Abend des traurigen Samstags wußte die ganze jüdische Gemeinde, was passiert war, und jeder kannte die Leidensgeschichte der betroffenen Männer, die aus unersichtlichen Gründen "ausgewählt" und so schrecklich mißhandelt worden waren. Zu denen, die man verschont hatte, gehörten übrigens die Kunden der Thomasschen Bäckerei.3

Mein Vater gab später zu, daß er vor der drohenden Aktion gewarnt worden war. Er hätte Niederstetten verlassen können, entschied sich aber zu bleiben und seine Gemeinde nicht im Stich zu lassen. Jene Frau Gerlinger, Inhaberin des Hotels zur Post, hatte ihn am Freitagnachmittag über die geplante Razzia informiert, weshalb Vater am Abend, als wir die Familie Neuburger besuchten, so nervös gewesen war. - Ein Jude aus Niederstetten hatte auf Frau Gerlingers Rat hin tatsächlich vom Freitag bis Sonntag im Hotel zur Post "gewohnt" und sich die ganze Zeit über in seinem Zimmer aufgehalten. Sie brachte ihm die Mahlzeiten und sorgte auch dafür, daß er sicher aus der Stadt entkommen konnte.

[Nach Niederstetten kamen Creglingen, Weikersheim und Bad Mergentheim an die Reihe.]

Inzwischen war - niemand wußte durch wen - die Meldung über die Brutalitäten bis zur Regierung in Stuttgart gedrungen, und dort erteilte man alsbald Befehl, die Aktion zu stoppen. Später wurde erzählt, daß die sofortige Beendigung des Massakers dem stellvertretenden Reichsstatthalter Dill4 zu verdanken war, der ursprünglich aus Niederstetten kam.
---
1 Bereits vorher hatte es eine Hausdurchsuchung durch den Ortspolizisten Johannes Dodel gegeben, siehe: Stern, So war es, S. 44.
2 Die Durchsuchungsaktionen erfolgten auf Grund eines Erlasses des Polizeikommisars für das Land Württemberg vom 19. März 1933 über den Waffeinzug, veröffentlicht im Staatsanzeiger für Württemberg Nr. 65 vom 18. März 1933 (siehe Behr/Rupp, Vom Leben und Sterben, S. 184).
3 Fritz Thomas, Ortsgruppenleiter der NSDAP, war Bäcker.
4 Dr. jur. Gottlob Dill (1885-1968), Jurist, württembergischer Ministerialbeamter und SS-Oberführer.

(Bruno Stern: So war es. Leben und Schicksal eines jüdischen Emigranten. Eine Autobiographie. Aus d. Engl. übers. von Ursula Michels-Wenz. Bearb. von Gerhard Taddey. Sigmaringen: Thorbecke 1985, S. 46-49)