( ) Niederstetten, 23 Juli. Irgendwo in Deutschland saßen einmal drei Leute beisammen und unterhielten sich über die soziale Frage. Sie beschlossen, die soziale Frage müsse gelöst werden und wenn sie die ganze Nacht aufblieben. Sie blieben die ganze Nacht auf, doch die soziale Frage harrt noch heute ihrer Lösung. – Aehnlich erging es den zahlreichen Teilnehmern der sozialdemokratischen Versammlung am vergangenen Samstag abend. Die Referate wurden von Herrn Frank-Hall über: Die politische Lage und von Herrn Oberlehrer Günther-Hall über: Die Stellung der Sozialdemokratie zur Religion erstattet. – Herr Frank gab einen ausführlichen Ueberblick über die hauptsächlich durch die jetzige Londoner Konferenz bedingte Lage Deutschlands in besonderer Berücksichtigung des Dawes-Gutachtens. – Herr Oberlehrer Günther erklärte die Stellung der Sozialdemokratie zur Religion. Mit dem Augenblick, wo die Kirchen aufgehört hätten, nur im Interesse der herrschenden Klasse und gegen den Arbeiter zu arbeiten, habe sich auch die Stellung der Sozialdemokratie zur Kirche geändert. Die Sozialdemokratie sei heute nicht mehr antireligiös. Sie verlange nur die Simultanschule und in dieser solle gerade der Religionsunterricht ausschließlich den Geistlichen der einzelnen Bekenntnisse eingeräumt sein. – Sehr anregend war die Diskussion. Herr Stadtpfarrer Schmitt legte den Standpunkt von katholischer Seite aus dar und brachte zum Ausdruck, die Ausführungen des Referenten können sich mit seinen persönlichen Anschauungen decken, nach den Aeußerungen der Gründer der sozialdemokratischen Partei müsse Herr Stadtpfarrer Schmitt diese für antireligiös halten. – Herr (ev.) Stadtpfarrer Hahn hielt nach seinen eigenen Erfahrungen auf höheren und Hochschulen, welche doch simultan seien, die Simultanschule für nicht geeignet, die Gegensätze im religiösen Leben zu überbrücken. – Herr Kaufmann Daiker-Mergentheim unterstrich den Standpunkt der Vorredner. – Die Referate wie die Diskussion waren in vornehmer und sachlicher Weise gehalten. – Die eingangs angeführte Anekdote hat insbesondere deshalb ihre Berechtigung, weil die Versammlung bis morgens einhalb 2 Uhr dauerte und auch die Schulfrage nicht gelöst wurde.

Tauber-Zeitung, 26. 7. 1924