( ) Niederstetten, 2 Jan. Heine erzählt uns in einer Ballade die Geschichte des persischen Dichters Firdusi. Als der Sultan, von den Poesien Firdusis begeistert, ihm wertvolle Geschenke in großer Menge sendet, wird gerade die Leiche des verhungerten Dichters zu Grabe getragen. Ähnlich war das Schicksal Schuberts. Als die Welt sein Genie anerkannte, als er nach Jahren fruchtbarster Arbeit endlich auch ein wenig materiell deren Segen empfand, als er im Stande war, sich selbst ein Klavier zu beschaffen, starb Schubert. Die Welt ließ immer ihre größten Zeitgenossen verhungern. Man kann ihr keinen Vorwurf daraus machen. Erst die Nachwelt erkennt das wahre Genie einer Zeit. Das Weihnachtskonzert des Männergesangvereins in der Turnhalle war in seinem ersten Teil den Genien Schuberts gewidmet. Zum ersten Mal leitete Herr Chormeister Fleckenstein-Mergentheim den Verein vor der Oeffentlichkeit. Es war ein Debut von überwältigendem Erfolg. Noch nie klangen die Stimmen so rein, noch nie so einheitlich harmonisch, es war wie eine Stimme, wie aus einem Guß. Die Ruhe des Dirigenten beherrschte die Sänger, zwang sie in den Bann der Komposition, man sah, daß Herr Fleckenstein mehr mit den Augen als mit dem Stab dirigierte. Ein Lob dem Dirigenten, aber auch ein Lob den Sängern, welche sich willig in die Hand des Dirigenten gaben und ihr Bestes boten. Von Schubert hörten wir "Sanktus", "Die Nacht" und "Die Allmacht". Waren schon die beiden erstgenannten Gesänge durch ihre herrliche Wiedergabe geeignet, die Zuhörer in höchster Spannung zu halten, so war dies noch mehr bei dem Gesang "Die Allmacht" der Fall, welcher als der Höhepunkt des Abends bezeichnet werden kann. Das Sopransolo hatte Frl. Lutz-Mergentheim übernommen. Es war die Leistung einer begnadeten Sängerin. Voll und rein trug ihre Stimme die Töne bis in die höchsten Lagen, dabei ideale Harmonie mit dem Männerchor. "Die Allmacht" ist eine Komposition Schuberts von prophetischer Kraft. Der Männergesangverein im Verein mit Frl. Lutz unter der Führung Herrn Fleckensteins haben dieser Kraft hochkünstlerisch Ausdruck verliehen. Als Instrumentaleinlage hörten wir die Sonate in G-moll, vermittelt durch Herrn Fleckenstein (Violine) und Herrn Oberlehrer Wahl (Klavier). Es ist eine Sonate, welche besonders sentimental alle Akkorde des Herzens erklingen läßt. Die beiden Herren verstanden es, durch virtuoses und gefühlvolles Spiel durch die Instrumente Schubert zu den Herzen der Hörer sprechen zu lassen. Nach Schubert kam das Volkslied zu seinem Recht, zuerst in künstlerischer Fassung, dann in der volkstümlichen Art Silchers. Auch diese Gesänge sowie die beiden Soli der Frl. Lutz fanden treffliche Wiedergabe. Bei allen Vorträgen herrschte atemlose Stille, so ähnlich wirkte der Gesang auf die Hörer und oft wagte erst nach sekundenlanger Pause nach den Vorträgen der stürmische Beifall laut zu werden. Herr Vorstand Julius Schneider begrüßte namens des Männergesangvereins die Mitglieder und Gäste, voran auch den Leiter, Herrn Fleckenstein und die Solistin Frl. Lutz. Herr Georg Meider trug ein Lebensbild Schuberts vor. Man war hier früher gewöhnt, daß der Vortragsfolge auch unterhaltende Teile eingefügt waren. Gegen manchen Widerstand setzte Herr Fleckenstein das reine Konzertprogramm durch. Als ich ihn zu seinem großen Erfolge beglückwünschte, sagte er, man kann auch das Publikum erziehen. Ja, entgegnete ich Herrn Fleckenstein, wenn man den Publikum etwas bietet. und das hat Herr Fleckenstein getan. Der Männergesangverein Niederstetten hat sich einen guten Führer erwählt und der Führer hat auch gute und willige Kräfte gefunden. So wird die künstlerische Zukunft des Vereins unter einem günstigen Sterne stehen.

Vaterlandsfreund, 4. 1. 1929