() Niederstetten, 1. Dez. Eine blutige Tragödie trug sich in der Nacht vom Samstag auf Sonntag in unserer Stadt zu. In der Nähe des Schlosses wohnende Bürger hörten beim Nachhausegehen um 1 Uhr nachts vor dem Schloßportal ein Stöhnen. Beim Nähertreten fanden sie einen hiesigen Bürgerssohn, Arbeiter eines Sägewerkes, in seinem Blute liegen. Sie holten sofort einen Arzt. Aber ärztliche Mühe war vergebens, der Unglückliche hauchte seinen Geist aus. Inzwischen war ein im Schlosse wohnender Förster herausgekommen und gab an, er habe auf den jungen Mann geschossen. Der junge Mann habe sich am Hoftor des Schlosses zu schaffen gemacht und der Täter habe geglaubt, es mit Einbrechern zu tun zu haben. Die Einzelheiten der Tat müssen erst aufgeklärt werden. Der Täter ist verhaftet. Die hiesige Einwohnerschaft befindet sich in begreiflicher Aufregung.

() Niederstetten, 2. Dez. (Tel.) Zu dem gemeldeten blutigen Vorfall auf dem hiesigen Schloß ist weiter zu berichten: Im Laufe des gestrigen Nachmittags traf hier die Staatsanwaltschaft Hall ein. Der Oberstaatsanwalt bemühte sich den ganzen Nachmittag hindurch bis in die späten Abendstunden um die Aufklärung der Tat, deren Beweggründe und Hergang noch ganz im Dunkeln liegen. Nach Eintritt der Nacht fand, unter Ausschaltung der Stadtbeleuchtung, ein eingehender Lokaltermin am Tatort statt. Ganz besonders noch ungeklärt ist die Vermutung, daß am Tatort vor dem Schlosse z. Zt. der Tat eine zweite Person anwesend gewesen sein soll und wer diese Person war. Die Klärung dieser Frage ist für die Beurteilung des Falles von großer Bedeutung. Die Staatsanwaltschaft erbittet zweckdienliche Mitteilungen zu dieser Frage an die Staatsanwaltschaft Hall oder an die nächste Landjägerstelle.

() Niederstetten, 1. Dez. Eine blutige Tat hat unsere Einwohnerschaft erschreckt. Ein Schuß zerriß die Stille der Nacht, viele hörten ihn, ohne an Schlimmes zu denken. Ein junges Leben ist das Opfer. Traurig sind die Gedanken, welche sich da dem denkenden Bürger aufdrängen. Ist ein Leben so leicht verwirkt, sitzt der Revolver so leicht in der Tasche und wer hat das Recht zu töten oder wer glaubt, daß ihm ein Recht dazu innewohnt? Sind doch alle Religionen einig in der Lehre „Du sollst nicht töten". Der junge Mann (oder wie das Gerede sagt, vielleicht mehrere) soll sich am Schloßtor zu schaffen gemacht haben. Wenn er ein Einbrecher gewesen wäre, was konnte er vollbringen? Das massive eiserne Tor hätte ihm wohl standgehalten und den Schloßhof bewachten Hunde. Selbst wenn er aber in den inneren Schloßhof gedrungen wäre, wäre er wieder vor verschlossenen Türen gestanden. Aber selbst wenn er in das Innerste des Schlosses gedrungen wäre, was hätte er stehlen können? Es gibt mancherlei Gründe, welche junge Leute vor fremde Türen führen, die Absicht, sich fremdes Eigentum anzueignen, das mußte sich der Täter sagen, hatte den Erschossenen gewiß nicht vor das Schloßtor geführt. Selbst Könige haben heute nicht mehr das Recht, unmittelbar über Leben und Tod zu richten. Den Mörder sogar läßt der heutige Begriff der Ethik leben, damit er umkehre und sich bessere. Selbst wenn ein Dieb vor den Toren des Schlosses gestanden hätte, wäre er vogelfrei? Ein Schreckschuß hätte den jungen Mann oder die jungen Leute vertrieben. Statt dessen dringt die tödliche Kugel in sein Eingeweide und Eltern und Geschwister umfängt statt der sonntäglichen Ruhe das Grauen, daß einer der Ihrigen unüberlegt getötet wurde. Wo bleibt der persönliche Mut? Wenn wir kein Recht haben, den Störer nächtlicher Ruhe zu töten, so haben wir das Recht, ihm entgegenzutreten. Mag der Jäger die Waffe führen, wenn ein Wild ihm vor den Schuß kommt. Der Mensch, auch wenn er Tadelnswertes begeht, er ist kein Wild. Der Krieg hat den Wert des Lebens des Nebenmenschen in den Augen Vieler sinken lassen. Aber der Krieg liegt 11 Jahre hinter uns. Jeder Mensch hat nur ein Leben und nicht nutzlos darf sein Lebenssaft vergeudet werden. Wir haben kein Recht, über den Täter zu richten, so wenig er ein Recht hat, über sein Opfer zu richten. Aber jeder, der eine Waffe führt, muß sich vor rascher Tat hüten, für welche es wohl eine Sühne, aber keine Wiedergutmachung gibt. Dies soll die Lehre sein, welche vielen Menschen rascher Tat das Opfer dieser Nacht lehren möchte.

* Wie uns von anderer Seite berichtet wird, sollen tatsächlich zwei Leute versucht haben, das Schloß des eisernen Tors aufzubrechen. Die die Verstrebung bildendende eiserne Stange war bereits aus dem Tor herausgenommen. Förster Müller, um den es sich in diesem Fall handelt, bemerkte die zwei Gestalten, worauf er sie vom Fenster aus, vor Abgabe des Schusses, zweimal angerufen haben soll. Inzwischen soll es gelungen sein, den zweiten Beteiligen, der nach dem Schuß die Flucht ergriff, ausfindig zu machen.

(Vaterlandsfreund, Nr. 284, 2. 12. 1929)