Biographische Bemerkungen

Der evangelische Niederstettener Pfarrer Hermann Umfrid (1892-1934) habe Widerstand gegen die Nazis geleistet und habe sich, von den Nazis in den Tod getrieben, das Leben genommen, auch um seine Familie zu schützen. So liest man es auch in der Wikipedia.

Wer sich allerdings die Mühe macht, in Archive geht und versucht, Belege für diese Aussagen zu finden, wird enttäuscht werden. Denn nach Aktenlage zeigt sich ein völlig anderes Bild. Ausführlich dazu in einem in Vorbereitung befindlichen Buch.

Beginnen wir mit dem Sterbeort, der überall mit Niederstetten angegeben ist. Nicht einmal der stimmt. Umfrid ist in Stuttgart gestorben ausweislich der Sterbeurkunde im Stadtarchiv Stuttgart.

Aber der Reihe nach.

Hermann Umfrid entstammt einer erblich vorbelasteten Familie. Sein Vater Otto, Pfarrer wie er, ist in der Anstalt Winnenthal gestorben, zwei seiner Schwestern waren zeitweise in der Psychiatrie und er selbst war ebenfalls zur Behandlung in einer solchen Einrichtung in Unteruhldingen. Hermann Umfrid war hochdepressiv, nicht auf Grund seiner Situation in der Kriegsgefangenschaft im Ersten Weltkrieg, wie man gelegentlich liest, er hat sich vielmehr in einem Anfall von Depression, bei dem ihn seine Frau allein gelassen hat, das Leben genommen.

Aufschlußreich die letzten Tage und Wochen, wie sie aus der inzwischen aufgefundenen Krankenakte hervorgeht. Die Angaben darin beruhen auf Angaben seiner Ehefrau Irmgard. Demnach begann Anfang Dezember 1933 wieder einmal ein depressiver Schub. Etwa zehn Tage vor seinem Tod - das müßte um den 10. Januar 1934 gewesen sein - verließ ihn die Ehefrau mit den gemeinsamen Kindern und ging nach Stuttgart zu ihren Eltern. Der praktische Arzt Dr. Heller informierte kurz vor Umfrids Tod den Dekan über Umfrids Zustand (Nervenzusammenbruch), Nachbarn meldeten sich bei Ehefrau Irmgard, die in die gemeinsame Wohnung zurückkehrte und am nächsten Morgen gegen 7 Uhr ihren stark blutenden Ehemann vorfand. Er hatte versucht, sich die Kehle durchzuschneiden.

Das Weitere mutet wie ein schlechter Kriminalfall an. Der Arzt verband die Wunde und fuhr mit ihm in Begleitung der Ehefrau in das 160 km entfernte Stuttgart. Unterwegs mußte man Station zur Wundversorgung im Krankenhaus in Künzelsau machen, kam gegen 22 Uhr endlich in Stuttgart an.

Warum die Fahrt nach Stuttgart, warum nicht in das nur 60 km entfernte Würzburg? Die Erklärung ist einfach: Weil Vater Otto eine Zeitlang als Pfarrer im Bürgerhospital in Stuttgart tätig war. So hoffte man, weit weg von Niederstetten, die Angelegenheit diskret erledigen zu können.

Es gibt wahrlich keinen Grund, die örtlichen Nazis in Schutz zu nehmen, aber nach allen Archivbefunden sieht es so aus, daß weniger die Nazis als eine langjährige Depression an seinem Tod ursächlich verantwortlich sind.

"Sittlicher" Antisemitismus und Hermann Umfrid

1932 veröffentlichte Dr. Kurt Hutten (1901-1979) eine Broschüre mit dem Titel "Nationalsozialismus und Christentum", Stuttgart: Verlag des Ev. Volksbundes G.m.b.H. 1932. 31 S. (Zeit- und Lebensfragen. Nr. 19)". Lt. Visitationsbericht des Dekans hatte Hutten zu diesem Thema auf Einladung von Pfarrer Umfrid einen Vortrag in Niederstetten gehalten. Aus Huttens Broschüre ein Zitat:

"Es ist ja eine allmählich in den weitesten Kreisen bekannte Tatsache, dass der moderne Geist der Zersetzung in Literatur, Presse, Theater, in Religion und Sittlichkeit zu einem guten Teil auf das Konto jüdischer Menschen geht. Ein Teil der Judenschaft – durchaus nicht alle! – hat sich wie ein Dämon, wie ein Prinzip der Entwurzelung und Verderbnis in unsere Volksseele eingekrallt. Der Geist der Verneinung aller Bindungen, der Hohn über Treu und Glauben, des Kampfes gegen seelische Gesundung und Sittlichkeit, der Geist des Händlertums, der das Leben vermammonisiert und die edlen Werte und Ideale der Ehre, des Opfers, der Selbstlosigkeit verneint – das alles ist wie eine Sturmflut über unser Volk hereingebrochen. Und unter den Trägern und Schöpfern dieses Geistes trifft man auffallend häufig Juden. Ein Antisemitismus, der sich gegen diesen Geist richtet, ist eine durch und durch sittliche Bewegung und muß auch von uns Christen unbedingt bejaht werden." (Kurt Hutten, Nationalsozialismus und Christentum, 1932, S. 23)

Man darf davon ausgehen, daß sich Huttens Niederstettener Vortrag inhaltlich kaum von dem unterschieden haben dürfte, was man heute noch gedruckt nachlesen kann (http://elk-wue.gbv.de/resolve?id=1727322312).

Einladung eines "fanatischen Judenhassers" zu einem Vortrag in Niederstetten

Ehefrau Irmgard schreibt 1982 in ihren Erinnerungen an die Niederstettener Jahre: "Im Bezirk war ein jüngerer Pfarrer, der ein eifriger Nationalsozialist und fanatischer Judenhasser war. Dieser kündigte in der Pfarrversammlung an, er werde damit beginnen, in jedem Ort einen Vortrag über die Juden zu halten, um die Menschen über diese 'Pest der Menschheit' aufzuklären. Hermann Umfrid sagte zu ihm: 'Willst Du nicht in unserem Ort damit beginnen?' Der andere stimmte freudig zu und sie machten einen Termin aus."

Dieser Vortrag hat lt. Ehefrau Irmgard tatsächlich stattgefunden.

Umfrid ein Freund der Juden? Immerhin hat man ihm in Yad Vashem ein Gedenken eingerichtet. Wer allerdings seine Predigt vom 26. Januar 1934 genau liest, findet dort den Satz: "Es rächen sich die Sünden der Juden an ihnen selbst."

Hermann Umfrid und sein Verhältnis zum Nationalsozialismus

Die zweite Bemerkung betrifft sein Verhältnis zur NSDAP. Umfrid war nie Mitglied der Partei noch einer ihrer Unterorganisationen, aber er schreibt selbst davon, daß er die Nazis wiederholt unterstützt hat.

Umfrid in seiner Stellungnahme an den Oberkirchenrat in Stuttgart vom 28. März 1933: "Ich habe nie einer Partei angehört noch je für eine solche geworben. Ich konnte auf meine Stellungnahme in mehreren Fällen hinweisen, in denen ich die völkische Bewegung unterstützt und durch öffentliches Auftreten sogar die Belange der NSDAP gefördert hatte (z. B. durch die Berufung von Dr. Hutten zu einem Volksbundvortrag über Nat.-Soz. und Christentum, der von der Bevölkerung völlig als Stellungnahme für den Nat.-Soz. aufgefasst worden war.)"

Vorläufiges Fazit

An dieser Stelle soll Umfrids Predigt vom 26. März 1933 nicht kleingeredet werden. Was ihn störte, war vor allem die Gewalttätigkeit bei der Polizeiaktion am 25. März 1933. Gegen einen "sauberen" Nationalsozialismus hatte er wohl nichts einzuwenden. Als Widerständler gegen die Nazis taugt er also nur bedingt.

Inzwischen hat man in Niederstetten einen Gedenkpfad für Umfrid eingerichtet mit all den Begrifflichkeiten, die einer modischen Geistesströmung in der Gegenwart entsprechen (Toleranz usw.). An einer Aufarbeitung der durch Akten und Urkunden belegten Geschehnisse hingegen besteht anscheinend kein Interesse.

(überarbeitet 6. 3. 2023, wird noch ergänzt)