Zentralspruchkammer Nord-Württemberg, Ludwigsburg, den 17. 8. 1949
Aktenzeichen: IV-33/32/1325
Spruch
Auf Grund des Gesetzes zur Befreiung von Nationalismus und Militarismus vom 5. März 1946 erläßt die Spruchkammer, bestehend aus
1. dem Vorsitzenden: Kotzem,
2. den Beisitzern: Fröhlich, Klahm
gegen Fritz Thomas, 6. 10. 1908, Niederstetten, Krs. Mergentheim auf Grund der mündlichen Verhandlung folgenden
Spruch:
Der Betroffene ist Mitläufer. Es werden ihm folgende Sühnemaßnahmen auferlegt:
Er hat einen einmaligen Sühnebeitrag von DM 250.– zu leisten. Im Falle der nicht Beitreibbarkeit tritt an Stelle von je DM 10.– ein Tag Ersatzarbeitsleistung.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Betroffene. Streitwert 2000.– DM.
Begründung:
1.) Betroffener ist 40 Jahre alt, verheiratet, Vater eines Kindes, von Beruf Bäcker. Sein Jahreseinkommen betrug weniger als RM 2000 –. Er ist angeblich vermögenslos.
2. ) Betroffener war Mitglied folgender Organisationen: NSDAP von 1929 - 1945, Ortsgruppenleiter von 1933 - 1942, NSKK von 1933 - 1945, Truppführer 1935 - 1940, Inhaber der bronzenen Dienstauszeichnung, und zählt somit zum Personenkreis der in der Anlage zum Gesetz unter Klasse II Ziff. 1 u. 4, J Kl. II Ziff. 5 und Teil B Ziff. 13 fällt.
Er gilt nach Art. 10 bis zur Widerlegung der Vermutung als Belasteter.
3.) Beweisaufnahme:
Betroffener erklärte, dass ihm von allen Partei-Programmen das der NSDAP am besten gefallen habe. Er sei deshalb am 1. 6 1929 dieser Partei als 21jähriger beigetreten. Am 15. 12. 1932 habe er das Amt des Ortsgruppenleiters von Niederstetten übernommen, das damals ca. 1600 Einwohner zählte. 1933/4 kamen zu dieser Ortsgruppe noch die Ortschaften Oberstetten und Wildentierbach mit 1200 Einwohnern. Parteiuniform habe er seit Dezember 1932 getragen. Einen Parteidienstrang habe er nicht besessen. Er habe die Reichsparteitage 1933, 1935 u. 1937 besucht. Aus der Kirche sei er 1935 aus persönlichen Gründen ausgetreten.
Betroffener erklärte weiter, dass er den radikalen weltanschaulichen Kreis der Partei nicht gebilligt habe, weshalb er in einen Gegensatz zum Kreisleiter geriet, der ihn 1942 aus dem Amt als Ortsgruppenleiter entfernte und ihn zur Wehrmacht einberufen liess. Nachdem er bereits von Mai bis Oktober 1940 Soldat war, wurde er am 16. 3. 1942 zur Flak-Waffe einberufen, bei der er im März 1945 in Kriegsgefangenschaft geriet; letzter Dienstgrad Unteroffizier.
Betroffener erklärte, dass er der SA von 1930 - 1931 und dem NSKK von 1931 - 1933 angehört, aber in beiden Gliederungen keinen Dienst getan habe.
Nach der Auskunft der Doc.Centr. (Bl. 10) stimmt die Angabe des Betroffenen über seinen Parteieintritt. Die amtlichen Auskünfte Bl. 4 - 6, 19 u. 86 besagen, dass er als Ortsgruppenleiter nie für ganz voll angesehen und auch nicht besonders ernst genommen wurde. Man wusste, dass bei ihm manches von dem abzubiegen war, was von oben verlangt wurde. Es ist nichts darüber bekannt, dass Betroffener als Ortsgruppenleiter jemand schädigte. Er erstattete keine Anzeigen und mischte sich auch nicht in kirchliche Angelegenheiten.
In einer eidesstattlichen Erklärung (Bl. 25) wird versichert, dass Betroffener die Geschäfte der Ortsgruppe schlecht führte. Die ihm vom Kreisleiter erteilten Aufträge führte er äusserst mangelhaft aus. Dieses Verhalten des Betroffenen führte dazu, dass der Kreisleiter mit ihm immer unzufriedener wurde und schliesslich seine Einberufung zur Wehrmacht veranlasste.
Dem Betroffenen wurden von den früheren Einwohnern aus Niederstetten, jetzigen amerikanischen Staatsbürgern und Angehörigen des jüdischen Glaubens Ari Levi u. Jeanne Liss (Bl. 73), Julius Kirchheimer (Bl. 56 u. 71), Leo Schlossberger (Bl. 70), Hermann Braun (Bl. 32, 19 u. 92), Leopold Schlossberger (Bl. 70) folgende individuell belastenden Einzelhandlungen vorgeworfen:
a) Für die am 25. 3. 1933 in Niederstetten vorgekommenen schweren Ausschreitungen gegen Angehörige des jüd. Glaubens, bei deren Festnahme, Hausdurchsuchungen und schwere körperliche Misshandlungen der Betroffenen erfolgten, verantwortlich zu sein;
b) desgl. für die Festnahme und Bestrafung des Levi sen. wegen Verkehrs mit einem franz. Kriegsgefangenen;
c) die Angehörigen des jüd. Glaubens, die s. Zt. nach dem KZ-Lager Dachau geschafft wurden, bei ihrem Aufsteigen auf den Lastkraftwagen beschimpft und photographiert zu haben;
d) für die Beschädigung von Häusern der Angehörigen des jüd. Glaubens verantwortlich zu sein;
e) nach 1933 in allen Wirtschaften des Bezirks, besonders in der "Krone" und "zum Ochsen" wüst gehetzt zu haben;
f) Hermann Braun auf das Rathaus bestellt und in Gegenwart des Bürgermeisters Weber mit Schlägen bedroht zu haben, der einen Jungen, der ihm ungebührlich gegenüber getreten war, geschlagen hatte und
g) die Geschäftsbücher des Hermann Braun in dessen Wohnung im November 1939 beschlagnahmt zu haben, während dieser sich im KZ Welzheim befand.
Betroffener bestreitet, diese Handlungen begangen zu haben. Er hätte sich gegenüber den Angehörigen jüdischen Glaubens anständig verhalten müssen, weil diese Kunden in seinem väterlichen Geschäft gewesen seien.
Aus den Zeugenaussagen von Willi Herterich (Bl. 104), Friedrich Melber (Bl. 65), Karl Doll (Bl. 164), Friedrich Pflüger (Bl. 104) und Georg Stümpfig (Bl. 103) ergibt sich, dass die Aktion am 25. 3. 1933 in Niederstetten und anderen Orten gegen Angehörige des jüdischen Glaubens und sonstige politische Gegner von damaligen SA-Standartenführer Klein und dem Sonderbeauftragten Dr. Sommer, beide aus Heilbronn, ohne Wissen des zuständigen Kreisleiters Stümpfig und der Gauleitung unter Zuziehung auswärtiger Polizeibeamter und SA-Leute durchgeführt wurde. Der Betroffene wurde erst nach Beginn dieser Aktion aufs Rathaus geholt, er befand sich dabei nicht in Polizeiuniform, sondern in seiner Berufskleidung als Bäcker. Er hat sich an den Misshandlungen nicht beteiligt, sondern will sich sogar vergeblich gegen sie gewandt haben. Er berichtete dem Kreisleiter fernmündlich über dieses Vorkommnis. Dabei befand er sich in einer erregten Stimmung. Der Kreisleiter beschwerte sich über Klein und Dr. Sommer bei der Gauleitung.
Polizeibeamter Dodel aus Niederstetten, der sich 1934 erschoss, hatte den Auswärtigen die Judenhäuser gezeigt und auch Angehörige des jüdischen Glaubens herbeigeholt. Im übrigen geschahen die Festnahmen durch die auswärtigen Polizeibeamten und die SA-Leute.
Dass der Betroffene für die Festnahme und Bestrafung des Levi sen. wegen Verkehrs mit einem franz. Kriegsgefangenen verantwortlich ist, dafür fehlt der schlüssige Beweis. Das gleiche gilt für das Beschimpfen und Photographieren der Angehörigen jüdischen Glaubens gelegentlich ihres Abtransports nach Dachau.
Die Zeugen Karl Gerhauser [recte: Gerheiser] (Bl. 65) und Maria Dinkel (Bl. 65) sagten aus, dass Betroffener keinen Angehörigen jüdischen Glaubens persönlich etwas zu Leide tat. Die Beschädigungen jüdischen Eigentums, vornehmlich das Zerstören von Fensterscheiben, besorgten aufgehetzte Jugendliche. Der ehemalige Gefolgschaftsführer der HJ von Niederstetten erklärte, dass auf Veranlassung des Betroffenen die HJ-Angehörigen immer wieder dazu angehalten wurden, die Belästigungen der Angehörigen des jüdischen Glaubens zu unterlassen.
Die Inhaber der Gaststätten "zur Krone", "zum Löwen" und "zum Ochsen" versichern auf Bl. 93 - 95, dass in diesen Gaststätten vom Betroffenen Angehörige des jüdischen Glaubens nicht belästigt und auch nicht beschimpft wurden.
Bürgermeister Weber erklärte (Bl. 92), er könne sich nicht daran erinnern, dass Braun in seiner Gegenwart von dem Betroffenen bedroht worden sei. Wenn es jedoch geschehen sein sollte, dann nur deshalb, um die Angelegenheit aus der Welt zu schaffen, ohne dass weitere Folgen für Braun eintraten.
Nach der Aussage der Zeugin Maria Dinkel (Bl. 65) hat Betroffener gemeinsam mit einem gewissen Seybold die Geschäftsbücher des Angehörigen jüdischen Glaubens Braun beschlagnahmt, während sich dieser im KZ befand. Die Bücher wurden am nächsten Tage zurückgegeben. Betroffener erklärte dazu, dass er im Auftrage des Kreisleiters gehandelt habe.
Betroffener hat in diesem Falle einen Tatbestand des Art. 7 I 1 verwirklicht.
Zugunsten des Betroffenen wurde vorgetragen:
1. von Ministerialdirektor a. D. Gottlob Dill, dass Betroffener sich bei ihm für 4 Bauern aus Vorbachzimmern einsetzte, die wegen defaitistischer Äußerungen in Haft genommen worden waren. Auf seine – Dills – Vorsprache veranlasste Innenminister Schmidt die Freilassung dieser Bauern. (Vergl. auch Bl. 20, 42, 43 u. 44 d. A.) Vorbachzimmern gehörte nicht zur Ortsgruppe des Betroffenen.
2. von den Zeugen Karl Gerheiser, Maria Dinkel (Bl. 65), dass er trotz vorliegenden Befehls 1938 die Synagoge in Niederstetten nicht abbrennen liess;
3. von dem Zeugen Melber (Bl. 65), dass er duldete, dass der Baumeister Kaufmann [recte: Baumann], der eine Jüdin zur Frau hatte, öffentliche Bauaufträge weiter ausführen durfte;
4. von dem ehem. franz. Kriegsgefangenen Ribou Roger (Bl. 38), dass der Betroffene sich ständig dafür verwendete, dass die Kriegsgefangenen in Niederstetten anständig behandelt wurden. Er griff ein, wenn Kriegsgefangene bei ihrem "Patron" zu viel zu arbeiten hatten oder zu wenig zu essen bekamen und sorgte für einen anderen besseren Arbeitsplatz. Er duldete auch, dass die Kriegsgefangenen in Niederstetten die Wirtschaften und das Kino besuchten und gab den Kriegsgefangenen auch Brot.
4.) Betroffener hat die Vermutung des Art. 10 nicht widerlegt. Er hat als Ortsgruppenleiter in der Zeit von 1932 - 1942 in einer verhältnismässig großen Landortsgruppe die Gewaltherrschaft der NSDAP wesentlich unterstützt, wenngleich in den letzten Jahren sein Amtseifer nachgelassen hatte. Er ist aber auch als ein überzeugter Anhänger der nat.soz. Gewaltherrschaft anzusehen.
Betroffener hat demnach Tatbestände der Art. 7 I 1, 2 u. 3 erfüllt. Er ist damit Belasteter.
5.) Die Feststellungen bei 3.) 1 - 4 stellen einen besonderen Umstand im Sinne des Art. 11 Abs. I Ziff. 1 i. V. m. Art. 39 dar. Dieser Umstand rechtfertigte es, den Betroffenen in die Gruppe der Minderbelasteten einzureihen.
Der Betroffene kehrte am 9. September 1948 aus franz. Kriegsgefangenschaft heim.
Wegen dieser Tatsache wurde gem. Art. 17 Ziff. VIII von der Verhängung einer Bewährungsfrist und von Sühnemassnahmen abgesehen. Betroffener wurde ohne Nachverfahren in die Gruppe der Mitläufer eingereiht und ihm entsprechend der bereits geleisteten Sühne und unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse eine einmalige Geldsühne von DM 250.– auferlegt.
Abschließend ist festzustellen, dass Betroffener als Angehöriger des Korps der politischen Leiter zu den vom Nürnberger Urteil nicht nur potentiell, sondern auch tatsächlich betroffenen Personen zählt, da er in Kenntnis der verbrecherischen Handlungen des Korps der politischen Leiter Ortsgruppenleiter bis 1942 geblieben ist. Deshalb konnte die Heimkehrer-Amnestie auf den Betroffenen nicht angewendet werden.
Der Vorsitzende:
Kotzem

(Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 902 / 16 Bü 2932)