Zur Broschüre "Gedenket unser!" Juden in Niederstetten [...]

  • emil
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14 Okt. 2025 08:42 #1 von emil
Hallo atminn! Zu der Bernheim-Sache kann ich nichts sagen. Ich will nur etwas sagen zu der Broschüre. Da hätte ich mehr erwartet als einen Nachdruck von alten Zeitungsartikeln auf Hochglanzpapier. Nicht einmal zu einem ordentlichen Inhaltsverzeichnis hat es gereicht! Armer Verein!

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  • atminn
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09 Okt. 2025 14:28 - 09 Okt. 2025 14:42 #2 von atminn
Es ist zweifellos verdienstvoll, was in Sachen Niederstetten und Niederstettener Juden in Jahrzehnten unternommen worden ist. Festgehalten ist dies in einer Hochglanzbroschüre, bei der man sich allerdings wundert, dass ein skandalöser Vorgang, der sich vor drei Jahren ereignet hat und bei dem der damalige Niederstettener Stadtrat, darunter auch Mitglieder des Vereins „Steidemer Männle“, eine beschämende Rolle spielt. Da die wenigsten Niederstettener darüber Bescheid wissen, seien die Vorgänge kurz skizziert.

Bei einer kursorischen Recherche im Internet fand ich vor Jahren einen Hinweis auf den in Niederstetten aufgewachsenen jüdischen Kaufmann Wilhelm Bernheim, über den ich so gut wie nichts im Internet ermitteln konnte. Bekanntlich werden die Gräber auf jüdischen Friedhöfen nicht aufgehoben, sie bestehen in alle Ewigkeit und es gibt im Internet umfangreiche Datenbanken dazu. Nur bei Wilhelm Bernheim blieb meine Suche ergebnislos. Ich wandte mich deshalb an meine Kollegen im Stadtarchiv und im Staatsarchiv in St. Gallen, die mir bereitwillig Dokumente zur Verfügung stellten. Wilhelm Bernheim hatte demnach nicht einfach irgendein Ladengeschäft in St. Gallen, wie man hätte vermuten können, vielmehr hat er dort 1904 in der Gallusstraße 43 I seine Firma für St. Gallener Spitzen (ein Luxusartikel) gegründet und war zu erheblichem Wohlstand gekommen. 1919 hatte er ein Vermögen von 150.000 Schweizer Franken und ein steuerpflichtiges Einkommen von 2.500 Franken.

Wilhelm Bernheim (1874-1953) und der Zeppelinkommandant Albert Sammt (1889-1982) kannten sich gut; Sammt ist hier geboren, Bernheim hier aufgewachsen; beide waren - der eine in den 1920er, der andere in den 1930er Jahren - Niederstettener Ehrenbürger geworden. Der eine, Albert Sammt, war bereits ab 1933 als Besatzungsmitglied, später als Kommandant des Zeppelin, an der Nazipropaganda aktiv beteiligt und berichtet davon nach 1945, sichtlich stolz von einem „Sonderauftrag des [Goebbels‘schen] Propagandaministeriums“ (Sammt). Für Sammt gibt es in Niederstetten ein Museum und eine Straße ist nach ihm benannt. Wie anders Wilhelm Bernheim, der nach Ende des Ersten Weltkrieges mit sehr viel Geld seine frühere Heimat Niederstetten unterstützt hat und ohne den es beispielsweise die Winzertänzer in der jetzigen Form kaum geben würde. Bernheim war es nämlich, der die teuren Stoffe für die Kostüme der Winzertänzer 1925 gespendet hat. - Der eine mit einer Straßenbenennung und einem Museum geehrt, der andere vergessen. – Beider Biographien, Sammts und Bernheims, habe ich in einem Aufsatz nebeneinandergestellt.

Noch vor der Veröffentlichung meines Aufsatzes, der 2023 im „Jahrbuch es Historischen Vereins für Württembergisch Franken“ gedruckt wurde, schickte ich allen damaligen Stadträten meinen im Manuskript vorliegenden Aufsatz zu in der Hoffnung, sie würden diesem jüdischen Wohltäter postum Gerechtigkeit widerfahren lassen. Wie sollte ich mich täuschen! Die Antwort, die ich erhielt, hätte auch von einem Alexander Gauland („Vogelschiss“), einem Rechtsradikalen oder einem beliebigen Neonazi kommen können: „Im Übrigen kann es nicht Aufgabe des Gremiums [Stadtrats] sein, die Gemeinderatsprotokolle vergangener Zeiten zu durchkämmen, um dann alle Beschlüsse, die nach unserem heutigen Rechtsempfinden unkorrekt waren, zurückzunehmen oder sich für sie zu entschuldigen.

Nichts zurücknehmen, sich für nichts entschuldigen! Wie heißt es doch so schön im Titel der Broschüre: "Gedenket unser!"

Ich war fassungslos! Kann man tatsächlich so geschichtsvergessen sein, wo man sich doch in der Vergangenheit damit gerühmt hat, was man alles für die Beziehung zu Juden getan hat!

Die Antwort des Stadtrats habe ich daraufhin dem Druck meines Aufsatzes (wissenschaftlich korrekt, mit 75 Fußnoten sauber belegt und überprüfbar) beigefügt.

Vom Verein "Steidemer Männle" habe ich in der Sache Bernheim keine öffentliche Reaktion erhalten. Gerüchteweise habe ich aber gehört, von wem die unerhörte Formulierung stammt. Sobald ich gerichtsfeste Beweise habe, werde ich seinen Namen gern hier öffentlich nachreichen.

Ein Problem blieb aber: Ehrenbürgerwürden können nur an lebende Personen vergeben werden. Kann man eine einmal entzogene Ehrenbürgerwürde nach dem Tod des Entehrten wieder aufleben lassen? Ich habe deshalb bei sämtlichen 16 Innenministerien in Deutschland nachgefragt, wie sie in solchen Fällen vorgehen. Das Baden-Württembergische Innenministerium hat in einem Brief an mich eine Möglichkeit aufgezeigt: Man kann den seinerzeitigen Beschluss in einem erneuten symbolischen Beschluss aufheben. Das wäre m. E. auch in Niederstetten möglich gewesen. Der Niederstettener Stadtrat konnte sich in seiner Sitzung am 17. September 2025 aber nur dazu durchringen, sich vom seinerzeitigen Beschluss zu distanzieren. Annulliert hat er ihn nicht. Aber immerhin!

Jetzt doch noch etwas Grundsätzliches: Wer sich mit der Niederstettener Stadtgeschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt, wird immer wieder hören, dass mit der Bombardierung des Rathauses am 9. April 1945 „alle Registraturen“ (Bürgermeister Jakob Schroth) verbrannt seien. Historisch gesehen ist das die berühmte "Stunde Null". Wer allerdings wissen will, der kann mit nur wenig Mühe wissen! Im Staatsarchiv Ludwigsburg beispielsweise liegen über 120 öffentlich zugängliche Spruchkammerakten von Niederstettenern, die einen guten Eindruck von der Nazizeit vermitteln. Man findet dort auch einiges zu einem anderen Niederstettener Ehrenbürger, dem Bürgermeister Karl Weber. Als die hiesigen Juden deportiert wurden, hat er bei einer Versteigerung, bei der er anwesend war, aus jüdischem Besitz für sich privat preisgünstig zwei Schränke und einen Koffer erworben, die er auch noch durch seine beiden Amtsdiener in sein Privathaus schaffen ließ.

Gespannt bin ich jetzt, ob der Verein „Steidemer Männle“, dem so viel am Gedenken liegt, sich dazu durchringen kann, einen öffentlichen Vortrag über Wilhelm Bernheim zu veranstalten. Um damit  auch eines Wilhelm Bernheims zu gedenken.
Letzte Änderung: 09 Okt. 2025 14:42 von atminn.

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